Chancen für die Industrie
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Come to where the power is!
Zeitenwende in Norddeutschland: Mit der Energiewende und dem Wunsch nach Energiesicherheit erhält der Norden große Chancen als Industriestandort. Mit ihren regenerativen Energien hat die Region jetzt einen Wettbewerbsvorsprung, denn wertschöpfungsintensive Industrien siedeln sich künftig dort an, wo saubere, krisenfeste Energie verfügbar ist.
Hintergrund
Norddeutschland steht an der Schwelle einer Trendwende. Jahrzehnte hat sich die Industrie, wenn es um Neuansiedlungen ging, eher im Süden heimisch gefühlt als im Norden. Schon vor Jahren hat die IHK Nord diese Schieflage erkannt und die klaren Stärken des Nordens herausgearbeitet, um die Kampagne „Come to where the power is“ ins Leben zu rufen. Der Vorsprung in der Energiewende und die Nähe zu seeschifftiefem Wasser sind die entscheidenden Standortfaktoren für die Renaissance des Industriestandorts Norddeutschland. Nicht ohne Grund plant das schwedische High-Tech-Unternehmen Northvolt ab 2025 nachhaltige Batterien für Elektroautos in Schleswig-Holstein zu fertigen. Weitere Ansiedlungen sind zu erwarten. Der Hintergrund ist klar: seit jeher ist die Industrie der Energieerzeugung gefolgt. Einige norddeutsche Standorte, an denen vorrangig in den 1970er- und 1980er-Jahren Atomkraftwerke errichtet wurden, profitieren bis heute davon. Nun hat Norddeutschland einen klaren Vorteil bei der Energieerzeugung, der spätestens mit dem Krieg in der Ukraine und mit wachsender Unsicherheit auf den Weltmärkten zu einem bedeutenden Standortfaktor geworden ist: Regenerative Energien, die sowohl unabhängig von der Lieferung fossiler Brennstoffe aus nicht verlässlichen Staaten als auch unabhängig von störanfälligen globalen Lieferketten sind. Warum den in Norddeutschland erzeugten Strom kostenintensiv nach Süddeutschland transportieren, wenn die Wertschöpfung auch vor Ort stattfinden kann? Das Fundament für ansiedlungswillige Unternehmen in Bezug auf eine nachhaltige Energieversorgung steht. Damit Norddeutschland richtig durchstarten kann und es in Zukunft heißt: „Come to where the resilient power is“, sind jedoch grundlegende Rahmenbedingungen zu schaffen:
Handlungserfordernisse
Planungsrecht
Voraussetzung, um den Wirtschaftsstandort Norddeutschland attraktiv für Industrieansiedelungen zu machen, ist eine massive Beschleunigung der Planungs- und Genehmigungsverfahren und die Reduzierung der Anzahl und Dauer der gerichtlichen Prüfungsverfahren. Für den Aus- und Neubau der physischen und digitalen Infrastrukturen sowie für die Ansiedlung neuer Unternehmen ist eine effizientere und schnellere Planung und Umsetzung unabdingbar. Das Bau-, Planungs- und Genehmigungsrecht sind in ihrer Gesamtheit kritisch zu hinterfragen und zukunftsorientiert für raschere Genehmigungsentscheidungen und verlässlichen Planungsgrundlagen zu novellieren. Am Beispiel der Errichtung von Windenergieanlagen zeigen sich die negativen volkswirtschaftlichen Effekte der gegenwärtigen Vorschriften durch einen Einbruch bei der Zahl der errichteten Anlagen. Die Zeiten, in denen die Genehmigung eines Windrads bis zu sieben Jahre dauern kann, ist ein Zustand, der nicht tragbar ist. Es gilt, die Planungs- und Genehmigungsprozesse zum Ausbau der erneuerbaren Energien, die mit dem Bau von Windrädern sowie der Installation von Solarparks einhergehen werden, sowie weiterer Infrastrukturmaßnahmen zu beschleunigen.
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So kann die Abhängigkeit von russischen Gas-, Kohle- und Ölimporten kurzfristig minimiert und die Energiesicherheit Deutschlands und der EU gestärkt werden. Dazu gehört auch, dass bestehende Industrie- und Gewerbeanlagen bei der Umstellung ihrer energieintensiven Prozesse auf alternative Energieträger (und sei es kurzfristig auf fossile Alternativen zum Erdgas) durch schnelle Genehmigungsverfahren unterstützt werden. Das LNG-Beschleunigungsgesetz (LNGG) zeigt, dass es anders gehen kann. Die in diesem Gesetz festgelegten Vereinfachungen hinsichtlich der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP), der Verkürzung der Fristen für die Öffentlichkeitsbeteiligung sowie die Erleichterungen beim naturschutzrechtlichen Ausgleich können als Blaupause für zukünftige Vereinfachungen im Genehmigungs- und Planungsrecht dienen. So bedürfen auch Erneuerungen (Repowering) und Kapazitätserhöhungen im Leitungsbau, Errichtungen neuer oder Modernisierungen bestehender Energie- und Produktionsanlagen einer grundlegenden Beschleunigung aller Genehmigungsprozesse. Das LNGG muss Maßstab werden.
Zudem muss die Effizienz der Behörden verbessert und die Möglichkeiten der Digitalisierung konsequent ausgeschöpft werden. Alle Verfahrensschritte – verwaltungsinterne sowie externe – sollten digital bearbeitet werden und mit konkreten Zeitangaben hinterlegt werden. Zugleich sollte die Einführung einer materiellen Präklusion geprüft und die Verfahrensdauer vor den Verwaltungsgerichten verkürzt werden. Schwerpunktdezernate bei den Gerichten haben sich bewährt und könnten als Modell fungieren: analog sollten zum Beispiel auf Landesebene Schwerpunkt-Verwaltungseinrichtungen gebildet werden. Ein entsprechendes Vorhaben wurde bereits am 17. Juni 2020 von der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) der Länder mit der Bundeskanzlerin verabschiedet. In der MPK vom 7. April 2022 wurde die Beschleunigung der Planungs- und Genehmigungsverfahren erneut bekräftigt. Die IHK Nord mahnt die schnellstmögliche Umsetzung an. Ergänzend werden Planungskooperationen mit der Privatwirtschaft und eine partnerschaftliche Projekteabwicklung befürwortet.
Die vielen Jahre verschleppter Reformen haben in der norddeutschen Energiewirtschaft ihre Spuren hinterlassen. Fertigungsbetriebe von Solaranlagen und zahlreiche Hersteller von Windkraftanlagen haben Deutschland mittlerweile verlassen und sich auf andere Märkte verlegt. Die zunehmenden Energiebedarfe erfordern einen deutlich stärkeren Zubau von On- und Offshore-Windkapazitäten. Die hierfür benötigten Kapazitäten für Planung, Produktion und Errichtung müssen schnellstmöglich wieder hochgefahren werden. Norddeutschland ist hierfür der richtige Standort.
Netzentgelte
Im Norden ist die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen besonders wirtschaftlich. So sorgen die guten Windbedingungen an Land dafür, dass die Stromgestehungskosten gesunken sind. Doch dieser regionale Vorteil findet sich im Gegensatz zu den regional unterschiedlichen Netzentgelten nicht im Strompreis wieder, da Verbraucher im bundesweiten Vergleich in weiten Teilen Norddeutschlands besonders hohe Netzentgelte zahlen müssen. Stark ins Gewicht fällt, dass viele Erzeuger Erneuerbarer Energien dezentral an die Flächennetze angeschlossen sind und weiter angeschlossen werden. Um diesen Strom aufnehmen zu können, müssen die regionalen Netze weit über ihre frühere lieferungsorientierte Versorgungsaufgabe hinaus ausgebaut werden. Die Kosten dafür werden innerhalb der betroffenen Netzgebiete vor Ort umgelegt; der produzierte Strom wird jedoch nicht nur im Norden, sondern auch im übrigen Deutschland verbraucht.
Es ist nicht zu akzeptieren, dass die Region, die den größten Beitrag zur Sicherstellung der Energieversorgung und der bundesweiten Klimaziele leistet, die höchsten Netz- und Ausbaukosten trägt. Die hohen Netzentgelte können ökologische und volkswirtschaftliche Fehlanreize hervorrufen, wenn Neuansiedlungen aufgrund der niedrigeren Netzentgelte weit entfernt von der Stromerzeugung realisiert werden – und die Engpässe im Übertragungsnetz dadurch noch weiter zunehmen, während der Ausbau erneuerbarer Energien in diesen Gegenden gleichzeitig unattraktiv bleibt. Es bedarf einer Anpassung der Netzentgeltsystematik für eine angemessene Kostenverteilung.
In der Vergangenheit haben sich Großverbraucher dort platziert, wo kostengünstige Energie in hohem Maße verfügbar war. Die aktuelle weltpolitische Lage sorgt dafür, dass die Verfügbarkeit von lokal produziertem, grünen Strom ein hartes Kriterium bei Standortentscheidungen wird. Norddeutschland kann in dieser Krise mit seinen Standortvorteilen und grünem Strom im Überschuss Lösungen für energieintensive Betriebe, wie zum Beispiel Daten- oder Rechenzentren, Unternehmen der Rohstoff-, chemischen und Glas-Industrie oder Gießereien anbieten.
Für den beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien sind weitere Schritte zwingend erforderlich. So ist der Einspeisevorrang erneuerbarer Energien in Verbindung mit Herkunftsnachweisen eine grundlegende Voraussetzung. Auf diese Weise kann der Bezug von Ökostrom belohnt werden. Zudem können Direktlieferverträge, sogenannte PPAs (Power Purchase Agreements), zwischen Erzeugungsanlagen und Verbrauchern Abhilfe schaffen. Darüber hinaus bedarf es einer Anpassung der Regelung der Eigenerzeugung bzw. -versorgung von Unternehmen mit Erneuerbarer Energie. Des Weiteren sollte darauf hingewirkt werden, dass auch der Verbrauch durch verbundene Unternehmen auf einem Betriebsgelände als Eigenverbrauch zählt und die gemeinschaftliche Eigenversorgung in Gewerbegebieten erleichtert werden. Darüber hinaus ist das Thema der „Eigenenergieerzeugung“ für Mieter zielorientiert anzupassen. Mehrwerte zu Gunsten von Mietern bei der Eigenenergieerzeugung der Eigentümer/Vermieter mit unmittelbaren Vorteilen für die Mieter steigert neben dem Wert der Immobilie zugleich auch den urbanen Standort. Fach- und Führungskräftegewinnung ist auch ein Beitrag zur Steigerung der Attraktivität des Standortes.
Verkehrsinfrastruktur
In Bezug auf die norddeutsche Infrastruktur besteht dringender Handlungsbedarf. Es müssen für den Transportsektor neue Infrastrukturen für alternative Kraftstoffe geschaffen werden, um die von der EU-Kommission geforderte Umsetzung der Klimaziele erreichen zu können. Bund und Länder müssen dafür unterstützend tätig werden und die erforderlichen rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen sowie in Infrastruktur investieren. Für ein starkes Norddeutschlands im internationalen Wettbewerb sind funktionierende, moderne Infrastrukturen essenziell. Dies betrifft den Ausbau und Erhalt moderner Verkehrswege und das Straßennetz als unverzichtbaren Bestandteil für das zu erwartende Wachstum bei der E-Mobilität im regionalen Güterverkehr und Individualverkehr. Außerdem müssen die Hafenstandorte in Norddeutschland gestärkt werden.
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Die Häfen haben unterschiedlichste Funktionen und Profile und nehmen als solche eine wichtige regionalwirtschaftliche Rolle und nicht selten bedeutende Handels-, Transport- und Dienstleistungsfunktionen wahr. Um die Wettbewerbsbedingungen der Häfen zu verbessern, muss in Hafeninfrastrukturen und Hafenerweiterungen investiert, eine Verschlickung der Tidehäfen und ihrer Zufahrten durch geeignete Maßnahmen verhindert sowie die Hafenhinterlandanbindungen verbessert und ausgebaut werden. Aber auch für die nicht via Schiene oder Wasserstraße angeschlossenen Regionen muss ein leistungsfähiger Verkehrsanschluss von Unternehmen und Öffentlichkeit gewährleistet sein.
Gleichzeitig werden die realen Lieferketten vom Produzenten zum Endverbraucher verstärkt von digitalen Lieferketten begleitet. Nur wer entlang der Lieferkette durch die Nutzung neuer Technologien effizienter und kostengünstiger arbeiten kann, wird im Wettbewerb bestehen. Ohne eine hervorragend ausgebaute digitale Infrastruktur ist dies nicht möglich.
Flächenverfügbarkeit
In den norddeutschen Bundesländern besteht mit Blick auf die verfügbaren Flächen vor dem Hintergrund der Flächensparziele die große Herausforderung, das industriepolitische Momentum nicht zu verpassen. Neben stromintensiven Gewerbe- und Industrieansiedlungsvorhaben müssen auch weiterhin bspw. wichtige Infrastrukturprojekte, die Schaffung von Wohnraum und der weitere Ausbau von regenerativen Energien abgewogen und in Einklang mit dem Naturschutz sowie dem Erhalt von Biodiversität und der Erzeugung von Lebensmitteln gebracht werden. Hier gilt es, die kommenden Werkzeuge zur Steuerung des Flächenverbrauchs so auszugestalten, dass die norddeutschen Bundesländer die Möglichkeit erhalten, im standortpolitischen Wettbewerb zu bestehen.
LNG-Infrastruktur – H2-ready
Um Deutschlands Abhängigkeit von russischen Gasimporten möglichst schnell zu reduzieren, wird seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Ende Februar 2022 der unverzügliche Aufbau einer LNG-Infrastruktur in Norddeutschland forciert. Der Import von Flüssiggas, das in Norddeutschland an verschiedenen Standorten an schwimmenden und festen LNG-Terminals angelandet werden soll, soll bereits ab 2023 erfolgen. Der Import und die Nutzung von LNG ist jedoch nicht klimaneutral, sodass es sich hierbei um eine Brückentechnologie handelt. Die nun entstehende LNG-Infrastruktur muss daher „H2-ready“, also für die Nutzung von Wasserstoff bereit sein.
Den zukünftigen norddeutschen Standorten dieser LNG-Terminals (Brunsbüttel, Hamburg, Lubmin, Rostock, Stade, Wilhelmshaven) kommt eine besondere Rolle für die Versorgungssicherheit Deutschlands zu. Der rasche Aufbau von festen LNG-Terminals sowie von Anlandestellen für schwimmende Terminals („Floating Storage and Regasification Units“, FSRU) beschleunigt die Abkehr von unsicheren Lieferländern und sollte daher die bestehende Anbindung an die Verteilungsinfrastruktur berücksichtigen. Dadurch bekommt der Norden das Potenzial, eine Magnetwirkung für weitere Ansiedelungen zu entwickeln.
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Neben dem schnellen Aufbau der dafür nötigen Infrastruktur an den Standorten sowie der für den Weitertransport benötigten Ressourcen sollte der unmittelbare Anschluss an bestehende Pipeline-Netze in Westeuropa erfolgen. So bündeln wir Kräfte und profitieren von europäischen Strukturen.
H2-Koordinierung in Norddeutschland
Norddeutschland gilt aufgrund seiner Standortvorteile mit Küstennähe, Salzkavernen und Seehäfen als prädestinierte Region für den Aufbau einer grünen Wasserstoffwirtschaft; für unseren Wirtschaftsraum bieten sich wirtschafts- und strukturpolitische Chancen, die sich durch den Krieg in der Ukraine verstärken. Der in den Windparks auf See und an Land gewonnene Strom, der aktuell aufgrund der fehlenden Leitungskapazitäten nicht nach Süddeutschland abtransportiert werden kann und deshalb zum Teil abgeregelt wird,[1] kann per Elektrolyse zu Wasserstoff umgewandelt und in dieser Form transportiert oder in Kavernen gespeichert werden.
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Perspektivisch wird der aus Erneuerbaren Energien gewonnene Wasserstoff ein Teil der Lösung für die langfristige Gewährleistung der Energiesicherheit und Energieversorgung sein. Die fünf norddeutschen Bundesländer bringen individuelle Standortvorteile und Stärken ein; dies wurde in der Norddeutschen Wasserstoffstrategie von 2019 berücksichtigt. Es gilt daher, die norddeutsche Zusammenarbeit zu festigen und eine gemeinsame Norddeutsche Wasserstoffkoordinierung zu gewährleisten. Dafür ist eine enge Kooperation zwischen den Bundesländern, der Wirtschaft sowie weiteren Stakeholdern erforderlich. Nur so kann ein effizienter Markthochlauf der Wasserstoffwirtschaft in Norddeutschland erfolgen. Die IHK Nord steht als Partner für die Zusammenarbeit in Norddeutschland bereit.
Forderungen auf einem Blick
- Sofortige Anpassung beim Planungs- und Genehmigungsrecht
- Verwaltungsgerichtsstruktur und Verfahren novellieren zur Entlastung aller Beteiligten
- Faire Netzentgelte für Treiber der erneuerbaren Energien
- Infrastrukturausbau für alternative Kraftstoffe & digitale Transformation
- LNG in Norddeutschland ans Netz bringen
- Gemeinsame Wasserstoffkoordinierung im Norden
[1] Im Jahr 2020 wurde eine Windenergiemenge (On- und Offshore) von 5.942,2 Gigawattstunden abgeregelt (Statista, 2022).https://de.statista.com/statistik/daten/studie/665177/umfrage/menge-des-abgeregelten-windstroms-in-deutschland/Damit könnten 1,7 Mio. Haushalte mit einem jährlichen Stromverbrauch von 3500 kWh für ein Jahr mit Strom versorgt werden.
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Hier weiterlesen: Broschüre Energie & Industrie in Norddeutschland (nicht barrierefrei, PDF-Datei · 13663 KB)