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Seit der letzten Legislaturperiode hat sich die Welt verändert. Durch den anhaltenden Krieg in Europa, bedingt durch den Angriff Russlands auf die Ukraine, haben die geopolitischen und geoökonomischen Differenzen zugenommen. Europa steht dabei zunehmend im Spannungsfeld zwischen China und den USA. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft sind enorm, die geopolitischen Konflikte bedrohen den für die europäische Wirtschaft zentralen Freihandel. Gleichzeitig hat Europa die Aufgabe, die Energiekrise zu lösen, und die Transformation der Wirtschaft zur Klimaneutralität zu bewältigen.
Wir brauchen ein selbstbewusstes, wirtschaftlich starkes und handlungsfähiges Europa, um diese Herausforderungen als Chancen zu nutzen. Norddeutschland spielt hierbei eine wichtige Rolle: mit der maritimen Wirtschaft ist Norddeutschland das Tor zur Welt und gleichzeitig Energie- und Industriedrehscheibe der Zukunft und bedeutender Außenwirtschaftsstandort. Nicht zuletzt ist der Norden, auch durch die Anbindung an die Küste und die Inseln, ein attraktiver Tourismusstandort und bietet optimale Bedingungen für die Ernährungswirtschaft.
Im März 2023 hat die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) unter dem Titel #GemeinsamEuropaGestalten die europapolitischen Positionen der IHK-Organisation verabschiedet.[1] Die IHK Nord stimmt dem DIHK-Papier in vollem Umfang zu. Ergänzend stellt die IHK Nord mit diesem Papier spezifisch norddeutsche Wirtschaftsthemen in den Mittelpunkt. Ziel ist es, Politikerinnen, Politikern und Institutionen der Europäischen Union für die Belange der norddeutschen Wirtschaft zu sensibilisieren. Als Drehscheibe des deutschen Außenhandels, Zentrum der Energiewende und attraktiver Lebensraum am Wasser hat Norddeutschland herausragende Perspektiven. Diese spezifischen Stärken des Nordens möchten wir weiterentwickeln, in der öffentlichen Wahrnehmung stärken und gleichzeitig die bestehenden Defizite benennen und beheben. Daher konzentriert sich die Arbeit der IHK Nord auf fünf norddeutsche Schwerpunktthemen mit übergeordneter nationaler Bedeutung:
Maritime Wirtschaft mit dem Schwerpunkt Infrastruktur und Seeverkehr
Die Legislaturperiode 2024 bis 2029 bringt große Weichenstellungen für Europa mit sich. Die norddeutsche Wirtschaft beteiligt sich aktiv in der Debatte um einen zukunftsfähigen europäischen Wirtschaftsraum und eine starke Europäische Union. Dabei ist es für uns bedeutend, gute, vertrauensvolle Beziehungen zu den Politikerinnen und Politikern auf- und auszubauen. Wir möchten in einem offenen Dialog ihren Blick um die Perspektiven der norddeutschen Wirtschaft erweitern und dazu beitragen, dass praxistaugliche, bürokratiearme und die Wirtschaft fördernde Rechtsvorschriften verabschiedet werden.
Das vorliegende Papier enthält die Forderungen der IHK Nord an die neu zusammengesetzten EU-Institutionen. Über alle Politikbereiche hinweg ist der Ausgleich zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Zielen besonders wichtig. Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit, Infrastrukturausbau und Klimaschutz müssen ineinandergreifen.
Wettbewerbsfähige Standorte sind unabdingbare Voraussetzung für die Entfaltung unternehmerischer Potenziale und betrieblicher Wertschöpfung. Und nur auf dieser Basis gelingt die Transformation zu klimaneutralem Wirtschaften. Durch kleinteilige bürokratische Vorhaben wie beispielsweise die EU-Lieferkettenrichtlinie mit unverhältnismäßigen Melde- und Berichtspflichten und weiteren zahlreichen Detailregelungen wird die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaftsstandorte in der EU zunehmend gefährdet. Die Wirtschaft und insbesondere die kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) dürfen nicht immer weiter belastet werden. Regulierungen und Vorgaben, die europäische Wirtschaftsstandorte im internationalen Wettbewerb benachteiligen, gehören auf den Prüfstand und benötigen dringend ein Update. Bei neuen Richtlinien und Verordnungen empfehlen wir eine Prüfung der Notwendigkeit zur Regulierung und einen umfassenden und aussagekräftigen Bürokratiekosten-Check. Die langjährigen Diskussionen zum Bürokratieabbau müssen endlich spürbare Erfolge zeigen: Entlastungen der Wirtschaft sind auch Entlastungen der Verwaltung. One-in-one-out ist angesichts der Regelungsdichte und – tiefe kein zukunftsfähiger Ansatz, wenn er nicht konsequent umgesetzt wird.
Die norddeutsche Wirtschaft setzt sich für eine EU-Politik ein, die Wirtschaftswachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit fördert, einen starken europäischen Binnenmarkt und internationale Wirtschaftsbeziehungen gewährleistet, die Liefer- und Wertschöpfungsketten sichert und der schleichenden Deindustrialisierung in Deutschland entgegenwirkt. Kurzum: Wir stehen ein für eine starke EU – mit einer starken und wettbewerbsfähigen norddeutschen Wirtschaft.
Auf einen Blick: Die Forderungen der norddeutschen Wirtschaft zur Europawahl 2024
Im Folgenden sind die Kernforderungen der IHK Nord auf einen Blick zusammengefasst, nähere Erläuterungen ergeben sich aus den Folgeabschnitten. Zusammenfassend fordert die norddeutsche Wirtschaft zur Europawahl 2024:
Maritimes und Infrastruktur
Europäische Hafenstrategie: auf faire Wettbewerbsbedingungen achten
Know How im Schiffbau und Offshore Windausbau sichern
Mit Net-Zero-Industry Act alternative Treibstoffe in der Schifffahrt fördern
EU-ETS im Seeverkehr und FuelEU Maritime effizient implementieren
Schiffsrecycling als Beitrag zu maritimen Kreislaufwirtschaft fördern
Verkehr und Mobilität europaweit ausbauen und modernisieren
Infrastrukturprojekte beschleunigen – EU Gesetzgebung anpassen
Energie und Industrie
Strommarktdesign und Sektorenkopplung weiterentwickeln
Internationalen Netzausbau vorantreiben
Mehr Tempo und Zusammenarbeit beim Offshore-Wind
Internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stärken
Wasserstoff in Europa fördern
Außenwirtschaft
Europäischen Binnenmarkt stärken
Einfache Marktzugänge schaffen
Handelsabkommen abschließen
Nachhaltigkeit, Umweltschutz und Menschenrechte global verankern
KMU-Kapitel in Handelsabkommen
EU-Standards stärken
Entsenderichtlinie anpassen
Unternehmen kompetent bei der Auslandsmarkterschließung unterstützen
Nachweis- und Berichtspflichten für Einfuhren vereinfachen
Reform der EU-Zollunion: Logistik der Seehäfen im Blick behalten
Handelspolitische Schutzinstrumente mit Augenmaß
Regeln für digitalen Handel und Güter mit hoher Dienstleistung einfordern
Zusammenarbeit mit der EU-Nachbarschaft vertiefen
Ernährungswirtschaft
Fischfang und -verarbeitung – nachhaltige Entwicklung unterstützen
Vereinfachung von Kontrollmechanismen im Lebensmittelrecht
Nutztierstrategie – Level Playing Field im EU-Binnenmarkt
Tourismus
Tourismusförderung sicherstellen und ausbauen
Aktionsplan für nachhaltige und widerstandsfähige Fischerei
Maritimes und Infrastruktur
Die maritime Wirtschaft ist von herausragender Bedeutung für die Wertschöpfung und Wettbewerbsfähigkeit von ganz Deutschland als Technologie-, Produktions- und Logistikstandort. Viele Unternehmen in den beteiligten Branchen sind grenzübergreifend in Europa und auch global erfolgreich tätig und müssen sich einem harten internationalen Wettbewerb stellen. Fundament dafür ist eine adäquate Verkehrs-, Energie- und Logistikinfrastruktur in den Häfen und im Hinterland.
Die gesamte maritime Branche steht im Hinblick auf die Energiewende und die Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft vor großen Herausforderungen. So sind für das Erreichen der Ausbauziele der Windenergie sowohl an Land als auch auf See umfangreiche Investitionen in Hafen- und Verkehrsinfrastrukturen erforderlich. Gleichzeitig erfolgt eine Umstellung der Schifffahrt auf neue Energieträger, für die notwendige Infrastrukturen geschaffen werden müssen. Dazu hat der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine in der maritimen Sicherheit zu einem Umdenken geführt.
Die IHK Nord hat es sich zur Aufgabe gemacht, gegenüber der Bundes- und Europapolitik die immense Bedeutung der deutschen Seehäfen und der maritimen Wirtschaft für Deutschland als führende Exportnation aufzuzeigen und die Notwendigkeit eines prioritären Bestandserhalts der Infrastruktur und ihres zukunftsorientierten Ausbaus zu verdeutlichen.
Europäische Hafenstrategie – auf faire Wettbewerbsbedingungen achten
Häfen sind nicht nur für den Außenhandel die Tore von und nach Europa und die Welt, sondern stellen auch vor dem Hintergrund von alternativen Energien und Dekarbonisierung als Energy-Ports Schlüssel-Infrastrukturen für die europäische Wirtschaft dar. Aktuell wird durch das Europäische Parlament ein Initiativbericht zu einer Europäischen Hafenstrategie erarbeitet. Darin wird die EU-Kommission aufgefordert, einen Vorschlag für eine Europäische Hafenstrategie vorzulegen. Vor diesem Hintergrund wird diskutiert, wie die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU-Häfen und die Kontrolle von Investitionen aus Drittstaaten gesichert werden können.
Aus Sicht der norddeutschen Wirtschaft darf sich die Diskussion nicht auf den Einstieg von Investoren aus Drittstaaten verengen. Insbesondere ist zu beachten, dass es auf europäischer Ebene bereits effektive Instrumente zur Investitionskontrolle gibt. Vielmehr muss eine EU-Hafenstrategie Maßnahmen im Blick haben, die die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hafensystems insgesamt erhöhen. Dabei liegt die Priorität auf infrastrukturellen Maßnahmen für die Modernisierung der europäischen Häfen. Die IHK Nord spricht sich für eine stärkere Förderung der Seehäfen mit Mitteln aus der Verordnung Connecting Europe Facility (CEF) aus. Gleichzeitig muss die EU auf einen fairen Wettbewerb der EU-Häfen untereinander (Level Playing Field) und eine möglichst faire Verteilung der CEF-Mittel achten. Zugleich gilt es, die Souveränität der Häfen zu erhalten, um Sicherheitsrisiken zu vermeiden.
Gleichzeitig sollte sich die EU auf internationaler Ebene für einheitliche Regelungen zur Nutzung und zum Schutz der Meere weltweit einsetzen. Diese sollten für alle Akteure gelten und der maritimen Wirtschaft einen sicheren Rechtsrahmen für die Entwicklung und den Einsatz innovativer Technologien ermöglichen.
Know How im Schiffbau und Offshore-Windausbau sichern
Der Schiffbau in Deutschland und in ganz Europa verliert seit den 1980er-Jahren als Ergebnis massiver Wettbewerbsverzerrungen global an Marktanteilen. Staaten wie Japan, Korea und hauptsächlich China fördern ihre Schiffbauunternehmen mit hohen Milliardenbeträgen. Ein konsequentes Einschreiten Europas gegen diese Marktverzerrungen bleibt bis heute aus.
Die europäischen Werften haben sich deshalb auf technisch anspruchsvolle Nischenmärkte fokussiert. Nicht nur in Deutschland konnte durch den Bau von Kreuzfahrtschiffen, großen Yachten und Schiffen für öffentliche Auftraggeber eine hohe technische Kompetenz und Ausbildungsstrukturen erhalten werden. Pandemiebedingt kam es zu einem Einbruch des Kreuzfahrtmarktes.
Die geopolitischen Entwicklungen und die nationalen sowie internationalen klimapolitischen Ziele unterstreichen derzeit die enorme strategische Bedeutung der maritimen Industrie. Ihr kommt sowohl für die Energiewende durch den Import neuer Energieträger als auch für den Ausbau erneuerbarer Energien eine Schlüsselrolle zu. Der Ausbau der Offshore-Windenergie ist einer der zentralen Bausteine für die Produktion nachhaltiger Energie. Zusätzlich müssen die Reedereien ihre Flotten auf klimaneutrale Treibstoffe umstellen. Für den Erhalt der schiffbaulichen Kompetenzen und industriellen Kapazitäten muss die deutsche und europäische Wirtschafts- und Handelspolitik gegensteuern.
Forderungen der IHK Nord sind die Festschreibung von europäischen bzw. nationalen Wertschöpfungsquoten; die Schaffung von Anreizen zum Neu- und Umbau der Handelsflotten zur klimaneutralen Schifffahrt; die Bereitstellung von Förderprogrammen zur Entwicklung und zum Erwerb von alternativen, klimafreundlichen Antrieben.
Mit NET-ZERO-INDUSTRY alternative Treibstoffe in der Schifffahrt fördern
Mit dem im Frühjahr 2023 vorgestellten Net-Zero-Industry-Act (NZIA) sollen bessere Bedingungen und mehr Investitionen für saubere Technologien in Europa geschaffen werden. Ziel ist es, die Produktionskapazität für die strategisch wichtigsten Netto-Null-Technologien bis 2030 auf mindestens 40 Prozent des Bedarfs der Union zu erhöhen.
Für Norddeutschland bietet der NZIA die Chance, alternative Treibstoffe in der Schifffahrt besonders zu fördern. Alternative Treibstoffe in der Schifffahrt spielen für Norddeutschland eine herausragende Rolle. Durch die Ausweitung des europäischen Emissionshandels auf den Seeverkehr und die Emissionsreduktionsvorgaben der FuelEU Maritime und der damit verbundenen Bepreisung von Emissionen in der Schifffahrt, wird der Bedarf an alternativen Treibstoffen in diesem Sektor steigen.
Der NZIA listet nachhaltige alternative Kraftstoffe als sonstige Netto-Null-Technologie auf, mit einer Fußnote nimmt der NZIA Bezug auf die FuelEU Maritime-Regelung. Durch die Unterteilung in strategische und nicht-strategische Netto-Null-Technologien besteht die Gefahr, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten zu schaffen.
Hier fehlt eine Anerkennung der strategischen Bedeutung der Schifffahrt im Rahmen des NZIA. Um die Schifffahrt zu stärken, spricht sich die IHK Nord dafür aus, nachhaltige alternative Treibstoffe in der Schifffahrt und Renewable Fuels of Non-Biological Origin (RFNBO), wie Methanol, als strategische Netto-Null-Technologien zu klassifizieren.[2]
EU-ETS im Seeverkehr und FuelEU Maritime effizient implementieren
Mit der Einbeziehung des Seeverkehrs in den europäischen Emissionshandel (EU-ETS) und der FuelEU Maritime zur Förderung kohlenstoffarmer Treibstoffe wurden im Jahr 2023 die zwei relevantesten Instrumentarien zur Emissionsreduktion in der Schifffahrt auf europäischer Ebene verabschiedet.
Beide Maßnahmen werden in den kommenden zwei Jahren in Kraft treten. Der Seeverkehr wird zum Jahr 2024 in den EU-ETS einbezogen werden, wobei es eine Übergangsphase bis zum Jahr 2026 geben wird, in der nur für einen Teil Emissionen Zertifikate erworben werden müssen.
Die Reduktionsquoten zur Begrenzung der Treibhausgasintensität, der an Bord von Seeschiffen verbrauchten Energie nach der FuelEU Maritime, beginnen ab dem Jahr 2025 und schreiben eine Reduktion der Treibhausgasintensität von minus zwei Prozent im Jahr 2025 bis hin zu minus 80 Prozent im Jahr 2050 vor. Damit die Umsetzung der Emissionsreduktionsziele nach der FuelEU Maritime gelingen kann, sollten neben alternativen Treibstoffen in der Schifffahrt (s.o.) auch die sonstigen Compliance Technologien nach der FuelEU Maritime gefördert werden, hierzu gehören z.B. Multi-Fuel Motoren mit Technologien zur Verringerung des Methanschlupfs. In diesem Kontext kann das Retrofitting von Schiffen, d.h. die Nachrüstung von Schiffen zur Verbesserung der Umweltleistung, mit Hinblick auf die Lange Einsatzdauer von Schiffen von bis zu 25 Jahren eine wichtige Rolle spielen.
Nachdem die IHK Nord sowohl die Einbeziehung des Seeverkehrs in den EU-ETS als auch die FuelEU Maritime intensiv begleitet hat[3], müssen beide Regularien nun effektiv implementiert werden. Die IHK Nord wird die Implementierungsrechtsakte weiterhin aktiv unterstützen, um einen bestmöglichen Start zu gewährleisten.
Von besonderer Bedeutung sind die Implementierungsrechtsakte zur Vermeidung von Emissionsverlagerung. Hier geht es um die Konstellation, in denen bei Fahrten von Drittländern in die EU (extra-EU) bewusst ein Zwischenstopp in einem Hafen der EU-Nachbarschaft (z. B. Marokko) eingelegt wird, um die Strecke zum oder vom nächstgelegenen Drittstaatshafen, die dem Emissionshandel nur zur Hälfte unterliegen wird, zu verkürzen. Um diese auch als evasive port calls bezeichnete Praktik zu unterbinden, sollen Drittstaatshäfen die nahe der EU liegen und häufig zum Umladen von Containern genutzt werden (sogenanntes Transshipment) nicht als Drittstaatshäfen gelten. Die genauen Kriterien hierfür sollen durch Implementierungsrechtsakte festgelegt werden.In der kommenden Legislaturperiode sollen für beide Regularien Evaluationen durchgeführt werden, die auf eine Ausdehnung des sachlichen Anwendungsbereichs abzielen. So soll im Jahr 2026 evaluiert werden, ob auch kleinere Fracht- und Offshore-Schiffe zwischen 400 BRZ und 5.000 BRZ in den EU-ETS aufgenommen werden sollen und nicht nur Schiffe ab 5.000 BRZ. Die IHK Nord wird die Evaluationen des EU-ETS im Seeverkehr sowie der FuelEU Maritime begleiten und die Interessen der norddeutschen Wirtschaft einbringen.
Schiffsrecycling als Beitrag zur maritimen Kreislaufwirtschaft fördern
Jährlich werden etwa 700 Seeschiffe weltweit außer Dienst gestellt, fast 90 Prozent dieser Schiffe werden in Südasien recycelt; insbesondere in Pakistan, Bangladesch und Indien. Der durch das Schiffsrecycling gewonnene Gebrauchsstahl ist ein wertvoller Rohstoff und kann den Stahl-Rohstoffbedarf der nachgelagerten Sektoren bedienen.
Das Zerlegen und das Recycling von Schiffen bedürfen weltweit hoher einheitlicher Sicherheits- und Umweltstandards. Um diese zu gewährleisten, haben die Mitgliedsstaaten der Seeschifffahrtsorganisation IMO bereits 2009 mit dem Hongkong-Übereinkommen einen Rechtsrahmen für das sichere und umweltfreundliche Abwracken von Schiffen geschaffen. Mit dem Beitritt zum Hongkong-Übereinkommen durch Bangladesch und Liberia kann das Übereinkommen ab Mitte 2025 in Kraft treten.
Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten haben das Hongkong-Übereinkommen als wirkungsvolles Instrument zur Durchsetzung von hohen Umwelt- und Sicherheitsstandards beim Recyceln von Schiffen eingestuft. Parallel wurde eine europäische Verordnung über das Recyceln von Schiffen verabschiedet, die EU Ship Recycling Resolution (EU-SRR). Demnach sollen Schiffe, welche die Flagge eines EU-Mitgliedstaates führen, nur auf einer von der EU-Kommission zugelassenen Werft recycelt werden. Eine Liste zugelassener Recyclingweften wird regelmäßig von der EU-Kommission veröffentlicht.
Allerdings ist die Anzahl der zertifizierten Abwrackwerften und die damit verbundene Kapazität nicht ausreichend, um das Recycling aller Altschiffe unter EU-Flagge zu gewährleisten. Mit Inkrafttreten des Honkong-Übereinkommens im Jahr 2025 wird der Bedarf an Abwrackwerften steigen.
Schiffsrecycling kann nur dann einen Beitrag zur maritimen Kreislaufwirtschaft leisten, wenn Recyclingkapazitäten zur Verfügung stehen. Auch durch die aktuelle geopolitische Lage hat die Rückgewinnung von Wertstoffen eine besonders hohe Relevanz. Im Jahr 2023 hat die EU-Kommission eine Bewertung der aktuellen EU-SRR angestoßen, an die sich unter Umständen eine Überarbeitung im Jahr 2024 anschließen wird.
Für Norddeutschland und die norddeutschen Werften kann das Schiffsrecycling eine enorme Chance darstellen. Durch die vorhandene Infrastruktur besitzt der Norden das Potenzial, eine Vorreiterrolle für nachhaltiges Schiffsrecycling einzunehmen. Damit würde die Wettbewerbsfähigkeit der maritimen Branche gestärkt sowie die Ressourceneffizienz für die deutsche Stahlindustrie erhöht werden.
Vor dem Hintergrund des stark wachsenden Bedarfs an Schiffsrecycling müssen jedoch ausreichende Kapazitäten geschaffen werden für eine nachhaltige maritime Kreislaufwirtschaft. Die norddeutsche Wirtschaft fordert daher die Einrichtung EU-verordnungskonformer Schiffsrecyclingbetriebe weltweit, in Europa und insbesondere in Norddeutschland. Obschon der Norden gute Bedingungen bietet, liegt aktuell keine der knapp 30 Abwrackwerften der EU in Deutschland. Dies liegt insbesondere daran, dass die Markteintrittsbarrieren für Schiffsrecyclingwerften in Deutschland sehr hoch sind. Im Gegensatz hierzu werden in Nachbarländern wie Dänemark, Belgien und den Niederlanden Zulassungen vergleichsweise schnell erwirkt. Ein Abbau der Markteintrittsbarrieren in Deutschland wäre daher förderlich, um das Abwandern von know-how zu vermeiden und das ebenfalls im Koalitionsvertrag der Bundesregierung aufgenommene Ziel, die gesamte maritime Wertschöpfungskette inklusive des explizit genannten Schiffsrecyclings zu fördern, umzusetzen.
Verkehr und Mobilität europaweit ausbauen und modernisieren
Wie kein anderes europäisches Zukunftsvorhaben fördert das transeuropäische Verkehrsnetz (TEN-V) die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes sowie des freien Personenverkehrs und ist bedeutsam für die Umsetzung der europäischen Grundfreiheiten. Auch die norddeutschen Unternehmen sind im europäischen Binnenmarkt auf ein leistungsfähiges Verkehrssystem angewiesen. Die geplante Fertigstellung des TEN-V-Kernnetzes bis 2030 bzw. des Gesamtnetzes bis 2050 ist von zentraler Bedeutung für die europäische Verkehrsinfrastruktur. Drei der sechs deutschen TEN-V-Kernnetzkorridore verlaufen durch das Logistikdrehkreuz Norddeutschland. Der bedarfsgerechte Ausbau der großen Verkehrsachsen und der Seehafenhinterlandanbindungen, sowie die Erhöhung der Netzresilienz sind existenziell.
Vor dem Hintergrund wachsender Güter- und Personenverkehre zeigt sich die Notwendigkeit von Erhalt und Sanierung sowie bedarfsgerechtem Aus- und Neubau der zentralen Verkehrswege aller wichtigen Verkehrsträger: Wasserstraße, Schiene und Straße. Eine umfassende internationale und überregionale Planung der transeuropäischen Verkehrsnetze sowie eine rasche Umsetzung der Projekte in Norddeutschland wirken sich langfristig positiv auf die Wirtschaft der angrenzenden Regionen aus.
Die norddeutsche Wirtschaft fordert, wichtige europäische Verkehrsprojekte in Norddeutschland zügig zu realisieren.[4] Die Zielsetzungen des TEN-V-Netzes sind weitgehend identisch mit denen des aktuellen Bundesverkehrswegeplans 2030. Nahezu alle großen Neu- und Ausbauprojekte des Bundesverkehrswegeplans 2030 liegen auf TEN-Korridoren. In diesem Zuge fordern die norddeutschen Kammern die deutschen EU-Politiker auf, die Bundesregierung darauf hinzuweisen, bei Überarbeitungen des Bundesverkehrswegeplans die transeuropäischen Verkehrsnetze im Blick zu haben und die dafür wichtigen norddeutschen Projekte umzusetzen. Aus Sicht der norddeutschen Wirtschaft sollte eine zentrale West-Ost-Achse entlang der Nord- und Ostseeküste zusätzlich als TEN-V-Korridor definiert und in das Kernnetz aufgenommen werden. Gleiches gilt für weitere Infrastrukturprojekte des Vordringlichen Bedarfes im Bundesverkehrswegeplan (BVWP), die derzeit noch nicht zum Kernnetz der TEN-V-Korridore gehören.
Begleitend dazu muss das EU-Förderprogramm Connecting Europe Facility (CEF), welches die Schaffung und den Ausbau moderner und leistungsfähiger transeuropäischer Netze in den Bereichen Transport, Energie und digitale Infrastrukturen erleichtern soll, entsprechend angepasst werden. Hierfür muss der anstehende REFIT des CEF Programmes 2021 bis 2027 effektiv genutzt werden, um Rationalisierungspotenziale zu heben.
Wichtige Infrastrukturvorhaben kommen aus Sicht der norddeutschen Wirtschaft nicht schnell genug voran. Einer der wesentlichen Gründe für die langen Verfahren sind die im europäischen Recht verankerten Möglichkeiten, gegen geplante Vorhaben behördlich und gerichtlich vorzugehen. Die IHK Nord fordert, die EU-Gesetzgebung dahingehend anzupassen, dass Planungs- und Genehmigungszeiten deutlich verkürzt werden. Vor diesem Hintergrund müssen die einschlägigen Verordnungen und Richtlinien angepasst werden, damit Projekte des Vordringlichen Bedarfs in den Mitgliedstaaten schneller umgesetzt werden können.
So hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 14.01.2021 (C-826/18) zum Beispiel bestätigt, dass eine materielle Präklusion von Einwendungen in umweltrelevanten Zulassungsverfahren in weitem Umfang unzulässig ist. Dies gelte nach dem aktuellen Urteil für sämtliche Vorhaben, die von Art. 9 Abs. 2 der Aarhus-Konvention erfasst sind, selbst wenn diese im Einzelfall nicht unter die Novelle des Gesetzes zur Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) oder die Industrieemissionsrichtlinie fallen.
Bei einer materiellen Präklusion sind Kläger im Gerichtsverfahren mit allen Einwendungen ausgeschlossen (präkludiert), die sie nicht im Verwaltungsverfahren rechtzeitig geltend gemacht haben. Solche Präklusionsregeln waren vom EuGH in der Vergangenheit beanstandet worden, da sie nach Auffassung des Gerichts den Zugang zu einer gerichtlichen Überprüfung unzulässig einschränkten. Mit Urteil vom 15.10.2015 (C-137/14) hatte der EuGH Präklusionsregelungen im deutschen Recht für unvereinbar mit der UVP-Richtlinie und der Industrieemissionsrichtlinie erklärt. Nach Meinung der IHK Nord sollten zumindest aber für wichtige Infrastrukturprojekte des Vordringlichen Bedarfes Präklusionsregelungen im EU-Recht eingeführt und verankert werden.
Zudem werden Infrastrukturprojekte oft mit Problemen des Artenschutzes konfrontiert. Die Fauna-Flora-Habitat Richtlinie, kurz FFH-Richtlinie, enthält viele geschützte Arten, deren Schutzbedürftigkeit regelmäßig wissenschaftlich überprüft werden sollte. Sehr eng ausgelegte Umweltrichtlinien der EU tragen häufig zur inhaltlichen Komplexität bei der Planung und Genehmigung von Infrastrukturprojekten bei. Die IHK Nord fordert deshalb, die FFH-Richtlinie regelmäßig anhand von wissenschaftlichen Kriterien zu überarbeiten, sowie mögliche Spielräume bei der Genehmigung von entsprechenden Infrastrukturprojekten zu nutzen.
Energie und Industrie
In der Legislaturperiode 2019 bis 2023 wurde mit Fit for 55 das größte europäische Energie- und Klimapaket angestoßen, welches mit Initiativen zur Förderung erneuerbarer Energien für Norddeutschland höchste Relevanz hat. Durch den seit Februar 2022 anhaltenden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist die Energiesicherheit im europäischen Kontext in den Fokus gerückt. Mit Maßnahmen wie dem RePowerEU-Plan wurde die europäische Abhängigkeit von fossilen Rohstoffimporten aus Russland deutlich verringert. Dies führt die EU-Kommission auf eine Diversifizierung der Energieimporte, den Ausbau erneuerbarer Energien und eine Steigerung der Energieeffizienz zurück. Allerdings ist der Rückgang des Energieverbrauchs, insbesondere in Deutschland, auch auf die hohen Energiepreise und das dadurch veranlasste Herunterfahren der Produktion zurückzuführen. Insgesamt war die Produktion der energieintensiven Industriezweige in Deutschland im Jahr 2022 kalenderbereinigt um 7,1 % niedriger als im Vorjahr bei einem gleichzeitig gesunkenen BIP.[5] Diese schleichende Deindustrialisierung in Deutschland unterstreicht die Notwendigkeit, auch kurzfristig wettbewerbsfähige Energiepreise sicherzustellen. Nur mit entsprechenden Energiepreisen kann der Norden seine Vorteile als Industriestandort der Zukunft ausschöpfen und zu einer Transformation hin zur grünen Industrie beitragen. Zu einer verbesserten europäischen Energiesouveränität gehört nicht zuletzt, dass nachhaltige Energien den Stempel „Made in Europe“ tragen. Mit dem Net-Zero-Industry Act soll die Produktion der Schlüsseltechnologien der Erneuerbaren in der EU gehalten und sichergestellt werden, dass die EU für eine klimaneutrale Wirtschaft gerüstet ist. Auf diese Weise soll der Wirtschaftsstandort Europa zukunftssicher werden. Gleichzeitig gilt es, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und der Wirtschaftsstandorte in der EU zu sichern. Mit dem Inflation Reduction Act der USA und dem Net-Zero-Industry-Act als europäische Antwort hat das Tauziehen um den Verbleib der relevanten Klimatechnologien in Europa begonnen. Der Norden wird mit seinen ansässigen Schlüsseltechnologien und Standortvorteilen hierbei eine entscheidende Rolle spielen.
Norddeutschland kann durch die geografischen Standortvorteile der Nord- und Ostsee und dem windreichen Binnenland für das gesamte Spektrum der erneuerbaren Energien in der Erzeugung und Energiespeicherung zur nationalen und europäischen Energiesicherheit beitragen. Mit den LNG-Terminals trägt der Norden wesentlich zur Gasversorgung in Deutschland und Europa bei. Zudem spielt die Region als Wasserstoff-Hub eine entscheidende Rolle in der Erzeugung und dem Import von grünem Wasserstoff. Norddeutsche Windräder, Photovoltaik und Biomasse schaffen die grüne Energie, die zur Produktion von grünem Wasserstoff dienen kann. Die Wasserstofferzeugung auf See reduziert den nationalen Aufwand zum Bau einer Vielzahl von Übertragungsnetzen in allen Spannungsbereichen.
Um Norddeutschland mit seinen zahlreichen Standortvorteilen jedoch langfristig als Drehscheibe für Erneuerbare Energien zu erhalten, müssen Unternehmen deutlich entlastet und vor allem nicht weiter belastet werden. Die Umsetzung der Initiativen aus dem Green Deal verlangt den Unternehmen viel ab, gerade im Energiebereich bestehen umfangreiche Berichtspflichten und unspezifizierte Produktverbote wie z.B. für PFAS. Die norddeutsche Wirtschaft fordert daher eine deutliche Bürokratieentlastung der Unternehmen und den Stopp immer kleinteiliger werdender Regulierungen für Produkte und Anlagen. Hierzu muss die von Kommissionspräsidentin von der Leyen angekündigte Verringerung der Berichtspflichten um 25 Prozent im Einklang mit der Strategie zur Stärkung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit der EU konsequent umgesetzt werden. Die im Rahmen des Arbeitsprogrammes der Europäischen Kommission für das Jahr 2024 vorgelegten 26 Rationalisierungsvorschläge, zum Beispiel im Rahmen sektorspezifischer europäischer Standards für Nachhaltigkeitsberichtserstattung (ESRS), sind hierfür ein guter Anfang. Darüber hinaus ist das „one-in-one-out“ Prinzip konsequent zu berücksichtigen, damit neue Belastungen nur in dem Maße eingeführt werden dürfen, wie bisherige Belastungen abgebaut werden. Für ein zukunftsfähiges Europa müssen Regulierung konsequent vereinfacht und abgebaut werden, da nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die umsetzende Verwaltung unter der Bürokratielast leidet.
Strommarktdesign und Sektorenkopplung weiterentwickeln
Die Weiterentwicklung des europäischen Strommarktdesigns ist für den Erfolg der Energiewende eine zentrale Herausforderung. Die Ziele Preisgünstigkeit, Versorgungssicherheit und Klimaschutz müssen bei einem stetig wachsenden Anteil erneuerbarer Energien so weit wie möglich in Einklang gebracht und die regulatorischen Rahmenbedingungen zukunftssicher modernisiert werden. Dazu ist der Ausbau von Stromspeichermöglichkeiten und die Fortentwicklung der Sektorenkopplung notwendig, um den Anteil erneuerbarer Energien in den Bereichen Wärme und Verkehr zu steigern, kurzfristige Schwankungen auszugleichen und die Notwendigkeit der Abregelung von erneuerbaren Energien zu reduzieren. Des Weiteren sind die Potenziale im Bereich der Wärmeversorgung bzgl. der Tiefengeothermie, die in weiten Teilen Norddeutschlands zur Verfügung steht, zu berücksichtigen. Im Norden gibt es hierzu bereits viel Know-how sowie gute Praxisbeispiele.
Für die Sektorenkopplung und Speicherung von Energie in Norddeutschland wird auch der Einsatz von Wasserstoff und dessen Derivaten einen wichtigen Beitrag leisten und zu einer Stabilisierung der Energienetze beitragen. Falls es zu einer Aufteilung der deutschen Strompreiszone kommt, ist eine kleinräumige Zonenaufspaltung zu vermeiden. Innereuropäische Stromgebotszonen dürfen sich nicht nachteilig auf die Wirtschaft auswirken und nicht den Wettbewerb verzerren. Dabei ist zu beachten, dass bei ausreichender Verbindungskapazität in Deutschland Gebotszonen ggf. gar nicht nötig wären, da Erzeugung und Last national gut ausgeglichen werden könnten.
Internationalen Netzausbau vorantreiben
Der Aus- und Umbau der Energienetze ist für den Erfolg der Energiewende unerlässlich. Daher sollte der Ausbau der Netze vorausschauend geplant und entschlossen vorangetrieben werden. Der internationale Netzausbau ist zu beschleunigen, damit ein ungehinderter Stromfluss über Gebotszonen hinweg erfolgen kann. Um die erzeugte Energie aus erneuerbaren Quellen vollständig und kosteneffizient nutzen zu können, müssen die Netze schnellstmöglich an die neue Erzeugungslandschaft angepasst werden. Die Beschleunigung und Vereinfachung von Planungs- und Genehmigungsverfahren für grenzüberschreitende Infrastrukturmaßnahmen ist für den Netzausbau und -umbau ein wichtiger und notwendiger Schritt.
Offshore Wind – mehr Tempo und Zusammenarbeit
Die europäischen und nationalen Ziele des Offshore Ausbaus sind ehrgeizig. Die EU-Länder haben sich in diesem Jahr bereits auf neue langfristige Ziele für den Ausbau erneuerbarer Offshore-Energie geeinigt. Das Gesamtziel einer Stromerzeugungskapazität von 111 Gigawatt (GW) bis 2030 ist dabei nahezu doppelt so hoch wie das Ziel von mindestens 60 GW, das in der EU-Strategie für erneuerbare Offshore-Energie von 2020 vorgesehen war. So sollen bis 2050 Kapazitäten von mehr als 300 GW für erneuerbare Offshore-Energie installiert werden. Auf nationaler Ebene wurde für Deutschland das ehrgeizige Ziel von 70 GW an Offshore-Windleistung bis 2045 gesetzt.
Um diese europäischen und nationalen Ausbauziele zu erreichen, bedarf es verschiedener Schlüsselmaßnahmen. So ist die rasche Ausweisung geeigneter Offshore-Flächen durch internationale Flächenentwicklungspläne unerlässlich, um die Installation von Windparks zu beschleunigen. Gleichzeitig muss die Offshore-Infrastruktur, einschließlich der Übertragungsnetze und Konverter, fortentwickelt werden. Dies erfordert eine verbesserte internationale Koordinierung und Vernetzung auf See, um Engpässe zu vermeiden.
Die Europäische Kommission hat im Oktober 2023 ein Windkraftpaket vorgelegt sowie zeitgleich hierzu eine gesonderte Mitteilung zur Umsetzung der Europäischen Offshore Strategie aus dem Jahr 2020 veröffentlicht. In diesem Rahmen schlägt sie neue Maßnahmen im Bereich der Offshore-Windenergie vor, konkret für die verstärkte regionale Zusammenarbeit und für grenzüberschreitende Projekte. Mit den angekündigten Leitlinien für Kosten-Nutzen-Analysen und Kostenteilung soll die Investitionssicherheit verbessert und ein regionaler Ansatz für maritime Raumordnungspläne gewährleistet werden. Diese Maßnahmen müssen zur Realisierung der Ausbauziele schnellstmöglich effizient umgesetzt werden.
Die Stärkung der norddeutschen Offshore-Häfen ist ein weiterer Schritt, um den steigenden Bedarf an Offshore-Windenergieanlagen und den auf See produzierten erneuerbaren Energien zu decken. Die Häfen müssen für den Offshore-Einsatz erweitert und ausgestattet werden. Die Förderung grenzüberschreitender Offshore-Projekte ermöglicht es, Ressourcen effizienter zu nutzen und Synergien zu schaffen, um die nationalen und europäischen Energieziele zu erreichen.
Es ist in diesem Kontext zu begrüßen, dass die im Oktober 2023 veröffentlichte Mitteilung der Europäischen Kommission zur Umsetzung der Europäischen Offshore Strategie aus dem Jahr 2020 die Rolle der Häfen als Schlüsselelement in der Offshore-Energieversorgungskette hervorhebt. Es soll eine Studie geben über die Möglichkeiten von Häfen, einen schnellen Ausbau der Offshore-Windenergie zu unterstützen. Dazu soll der Bedarf an Hafeninfrastruktur im Zusammenhang mit der Entwicklung von Offshore-Windkraftprojekten kartiert, kategorisiert und in verschiedene Prioritätsstufen eingeordnet werden.
Die Umwandlung von Offshore-Strom in alternative Energieträger wie Wasserstoff bietet die Möglichkeit, Energie zu speichern und zu transportieren, was die Flexibilität und Zuverlässigkeit des Energiesystems erhöhen könnte. Insgesamt erfordert die Verwirklichung der Ausbauziele eine koordinierte Anstrengung auf nationaler und internationaler Ebene, um die notwendigen Maßnahmen in Bezug auf Flächen, Infrastruktur, Häfen, Zusammenarbeit und innovative Technologien umzusetzen und die Energiewende zu verwirklichen.
Internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stärken
Norddeutsche Unternehmen sind auf einen verlässlichen Rechtsrahmen angewiesen, der langfristige Planungssicherheit und so Investitionssicherheit bietet. Die Weiterentwicklung der europäischen Klimapolitik sollte stets im Zusammenhang mit einer Stärkung der industriellen und sonstigen Wertschöpfung in Europa gedacht werden und die Erneuerbaren Energien als Zukunftsindustrien fördern.
In Reaktion auf den amerikanischen Inflation Reduction Act wurde mit dem Net-Zero-Industry-Act eine europäische Antwort formuliert, um mehr Investitionen für saubere Technologien in Europa zu schaffen und die Resilienz der europäischen Lieferketten der Erneuerbaren zu steigern. Ziel ist es, die Produktionskapazität für die strategisch wichtigsten Netto-Null-Technologien bis 2030 auf mindestens 40 Prozent des Bedarfs der Union zu erhöhen und so einen schnellen Übergang zu sauberer Energie zu ermöglichen. Zu den hierfür identifizierten Schlüsseltechnologien gehören Photovoltaik- und solarthermische Anlagen, Onshore-Windkraft- und erneuerbare Offshore-Technologien, Batterie- und Speichertechnologien, Wärmepumpen und Technologien für geothermische Energie, Elektrolyseure und Brennstoffzellen, nachhaltige Biogas bzw. Biomethantechnologie, Technologien zur CO2-Abscheidung und -speicherung sowie Grid-Technologie. Damit gehören zu den europäischen Schlüsseltechnologien, auch als strategische Netto-Null-Technologien bezeichnet, für Norddeutschland höchstrelevante Technologien wie die Erneuerbare Offshore-Energie sowie Elektrolyseure und Brennstoffzellen.
Für die strategischen Netto-Null-Technologien werden Vorgaben zur Beschleunigung von Genehmigungen vorgeschlagen. Da lange Genehmigungszeiten ein großes Hindernis der Energiewende darstellen, ist eine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren längst überfällig – aber keinesfalls ausreichend. Mehr Tempo wäre zu erzielen, wenn die Genehmigungsfristen des Net-Zero-Industry-Acts für strategische Netto-Null-Technologien an die Fristen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) angepasst würden. Die IHK Nord sieht das als wichtigen Schritt, um Schlüsseltechnologien langfristig in Europa zu halten.
Insgesamt fällt auf, dass der Net-Zero-Industry-Act im Vergleich zum US-amerikanischen Inflation Reduction Act deutlich komplizierter, detaillierter und bürokratischer ausgestaltet wurde, was zu Folgekosten und erhöhtem Aufwand bei Unternehmen und Verwaltungen führt. Die norddeutsche Wirtschaft wünscht sich hier einen pragmatischeren, einfacheren und klareren Ansatz.
Wasserstoff in Europa fördern
Bei der Entwicklung des H2-Backbones dürfen ländliche Regionen im Norden nicht außer Acht gelassen werden, da Norddeutschland durch seine Meereszugänge und die erheblichen Erzeugungskapazitäten von On- und Offshore-Windstrom die Möglichkeit bietet, eine grüne Wasserstoffindustrie aufzubauen. Dies ermöglicht die emissionsfreie Produktion, Speicherung und Nutzung von Wasserstoff vor Ort und schafft Wertschöpfung in der Region. Die norddeutschen Seehäfen werden als entscheidende Energieknotenpunkte für den Import und den Export von Wasserstoff und für andere Energieträger eine zentrale Rolle spielen.
Weiterhin unterstütztdie IHK Nord die Nutzung der Strukturen von H2Global für die Europäische Wasserstoffbank, um den gemeinsamen europäischen Import von Wasserstoff zu fördern. Die Entscheidung, H2Global in die Europäische Wasserstoffbank zu integrieren, wird begrüßt, da sie den Weg für eine effiziente Nutzung dieser wichtigen Ressource ebnet. Des Weiteren sind einheitliche (technische) Standards von großer Bedeutung, um einen reibungslosen Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft sowie eine Integration und Nutzung von Wasserstoff zu gewährleisten. Dies eröffnet für Norddeutschland nicht nur wirtschaftliche Chancen, sondern trägt auch zur Erreichung der Umwelt- und Klimaschutzziele bei.
Auẞenwirtschaft
Norddeutschland ist die Drehscheibe für den deutschen Außenhandel. Mehr als zwei Drittel des seewärtigen deutschen Außenhandels werden über unsere Seehäfen abgewickelt. Allein im Groß- und Außenhandel sorgen rund 28.500 Unternehmen mit gut 267.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten für zahlreiche Ziel- und Quellverkehre im Norden und setzen jährlich etwa 281 Milliarden Euro um. Oftmals liegt der Schwerpunkt dieser Verkehre im europäischen Binnenmarkt. Vor allem die unmittelbaren Nachbarstaaten profitieren vom Export hiesiger Unternehmen. Außerhalb Europas gehören die USA und der asiatische Markt, hier allen voran China, zu den wichtigen Handelspartnern. Aufgrund der Erfahrungen in der Corona-Pandemie und der neuen geopolitischen Risiken, ist bei einem Großteil der Unternehmen Diversifizierung ein wichtiger Teil der aktuellen Geschäftsstrategien. Unternehmen versuchen damit bei den Lieferketten, Produktionsstandorten sowie den Absatz- und Beschaffungsmärkten Risiken zu streuen und Resilienzen aufzubauen. Dabei gilt das Prinzip, dass Änderungen in den Lieferketten in erster Linie unternehmerische Entscheidung bleiben müssen! Die IHK Nord bekennt sich zu den WTO-Regeln und setzt sich aktiv für eine WTO-Reform ein, um die volle Handlungsfähigkeit der WTO wieder herzustellen.
Europäischen Binnenmarkt stärken
Die Basis für das internationale Geschäft liegt für die Mehrheit unserer Unternehmen in Europa. Daher muss die Wettbewerbsfähigkeit regionaler Unternehmen auf dem Kontinent gestärkt werden. Die Organe der Europäischen Union müssen einen starken EU-Binnenmarkt mit seinen Errungenschaften des freien Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital gewährleisten und sollten enge Wirtschaftspartnerschaften mit den europäischen Anrainerstaaten fördern. Die Vollendung des EU-Binnenmarktes kann nur durch Harmonisierung bestehender und kommender Regelungen und Vorgaben gelingen.
Einfache Marktzugänge schaffen
Nicht nur im internationalen Geschäft mit Drittstaaten stoßen norddeutsche Unternehmen auf Schranken und Barrieren. Auch nationale und in der EU geltende zoll- und außenwirtschaftsrechtliche Vorschriften erschweren das Auslandsgeschäft. Entscheidend für eine erfolgreiche Internationalisierung und langfristige Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sind einfache Zugänge in die Märkte. Anstelle von Protektionismus bedarf es Handelsliberalisierungen sowie eines wirtschaftsfreundlichen Zoll- und Außenwirtschaftsrechts. Dafür müssen Handelsstreitigkeiten und Handelshemmnisse wie Zölle mit den USA abgebaut werden. Dies sollte auch insbesondere nicht-tarifäre Handelshemmnisse wie etwa Local-Content-Vorgaben, Bevorzugung in der staatlichen Auftragsvergabe, bürokratische Zulassungsverfahren oder technische Normen umfassen. Den sich verschlechternden Marktbedingungen für ausländische Unternehmen in China muss die EU mit der konsequenten Umsetzung von Reziprozität begegnen und die Instrumentarien der „Offenen strategischen Autonomie“, insbesondere das International Procurement Instrument und das Anti-Coercion Instrument, zur Anwendung bringen.
Handelsabkommen abschließen
Die Freihandelsabkommen (FTA) mit Mercosur und Mexiko müssen schnellstmöglich abschließend ratifiziert werden. Die Freihandelsabkommen mit Indonesien und Indien müssen fertig verhandelt werden. Die norddeutschen Unternehmen würden von weiteren Freihandelsabkommen mit Ländern in Südostasien, Lateinamerika, Afrika und den arabischen Raum profitieren. Freihandelsabkommen sollen nicht durch wirtschaftsferne Themen blockiert werden können – so wie es derzeit beim Abkommen mit Mercosur der Fall ist. Gewinnbringender wäre hier ein inkrementeller Ansatz, der die Souveränität der Handelspartner auch im Blick auf Nachhaltigkeitsforderungen respektiert. Niemand gewinnt, wenn sich in Partnerländern ein negatives Narrativ über die EU-Handelspolitik verfestigt und Abkommen dadurch nicht zum Abschluss kommen. Stattdessen sollte ein partnerschaftlicher Ausbau der Nachhaltigkeitsanforderungen angestrebt werden und die EU soll sich auf globaler Ebene für wichtige Themen wie Nachhaltigkeit, Menschenrechte und Umweltschutz einsetzen.
Nachhaltigkeit, Umweltschutz und Menschenrechte global verankern
So sollen Mechanismen zur Senkung des CO2- Ausstoßes, zur Sicherung der Biodiversität und zur Achtung der Menschenrechte verstärkt durch globale Institutionen wie die WTO, OECD und UN oder Formate wie G20 und G7 verhandelt und verankert werden. Hierbei ist insbesondere mit Blick auf den beschlossenen CO2-Grenzausgleich der EU internationale Zusammenarbeit in der WTO oder einem Klimaclub relevant. Auch die Reform des Allgemeinen Präferenzsystems der EU sollte den Handel mit Entwicklungsländern eher erleichtern, statt ihn zu erschweren. Innerhalb der EU sollte das Erreichen von Nachhaltigkeitszielen an Anreizmechanismen (bspw. Steueranreize, vergünstigter Zugang zu Finanzierung oder Außenwirtschaftsfördermaßnahmen) geknüpft werden, anstatt nur über bürokratische Auflagen gesteuert zu werden, die Unternehmen Belastung, aber keinen operativen Vorteil bringen. Das Abwälzen nationalstaatlicher Aufgaben in Lieferkettengesetze zu Lasten der Unternehmen lehnt die IHK Nord in diesem Zusammenhang ab.
KMU-Kapitel in Handelsabkommen
Bei der Ausarbeitung von Freihandelsabkommen muss die Politik die Belange der mittelständischen Unternehmen berücksichtigen und ihre Positionen in Verhandlungen einbringen. So sollen Handelsabkommen mittelstandsfreundlicher werden. Dies sollte geschehen durch KMU-Kapitel, u.a. zu einfachen und in allen Abkommen gleichlautenden Ursprungsregeln, Visaerleichterungen und Vorgaben zur Wahlfreiheit beim Nachweis des Präferenzursprungs (Warenverkehrsbescheinigung oder den Erwerb eines Zollstatus (REX o.ä.)). Zudem sollte der EU-Ursprungsrechner (ROSA) weiter ausgebaut werden, um gerade kleinen und mittleren Unternehmen die Bestimmung des für die Inanspruchnahme von Zollpräferenzen zu ermittelnden Warenursprungs auf Basis der in den Abkommen vereinbarten Ursprungsregeln zu erleichtern, ohne auf vergleichsweise teure Softwarelösungen zurückgreifen zu müssen. Die Erweiterung um das EU-Tool „Access2Conformity“ wird begrüßt.
EU-Standards stärken
Statt Abkommen wie der Transpazifischen Partnerschaft (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership, CPTPP) oder der Regionalen umfassenden Partnerschaft (Regional Comprehensive Economic Partnership, RCEP) beizutreten und damit Standards konkurrierender Wirtschaftsräume zu übernehmen, sollte die EU durch eigene Abkommen die Beziehungen zu den beteiligten Staaten vertiefen und die Bedeutung europäischer Standards vor Ort stärken. Der Transatlantische Handels- und Technologierat TTC der EU mit den USA kann globale Zukunftsstandards setzen.
Entsenderichtlinie anpassen
Die im Jahr 2018 verabschiedete Entsenderichtlinie führte dazu, dass viele Mitgliedstaaten die Meldepflichten zur Einhaltung von arbeitsrechtlichen Bestimmungen deutlich verschärft hatten. Dies bedeutet für Unternehmen, die Mitarbeiter im Ausland einsetzen, einen erhöhten administrativen Aufwand. Dies gilt auch für Geschäftsreisen, für die im Vorfeld der Reise eine Bescheinigung des Versicherungsträgers elektronisch beantragt und mitgeführt werden muss. Nichteinhaltungen werden in einigen EU-Ländern verschärft sanktioniert und können die Geschäftsabwicklung behindern. Der dadurch notwendige administrative und zeitliche Aufwand belastet Unternehmen unverhältnismäßig hoch und erschwert die unternehmerische Aktivität im Binnenmarkt. Die IHK Nord fordert auf EU-Ebene harmonisierte Anforderungen wie einheitliche Befreiungen, Verkürzungen und Standardisierung der Dokumentpflichten. Zudem sollte Englisch als Standardsprache festgelegt werden. Weitere Ausnahmen, zum Beispiel bei kurzen Geschäftsreisen, Konferenzteilnahmen und zu bestimmten Entsendungszwecken, wie für Reparatur- und Dienstleistungsaufträge, sollten eingeführt werden. Das im Arbeitsprogramm der EU-Kommission für 2024 angekündigte einheitliche, mehrsprachige Online-Portal, bei dem die Entsendungen EU-weit angemeldet werden können sollen, ist zu begrüßen. Allerdings sollte die Teilhabe daran für alle Mitgliedstaaten verpflichtend sein und nicht auf freiwilliger Basis erfolgen.
Unternehmen kompetent bei der Auslandsmarkterschließung unterstützen
Der Außenhandel wird der Motor für wirtschaftliches Wachstum in Deutschland bleiben. Dies gilt auf regionaler Ebene gleichermaßen. Unternehmen müssen sich zukünftig auf kompetente Ansprechpartner sowohl für den Außenhandel als auch für den Binnenmarkt verlassen können. In den jeweiligen Zielmärkten bieten die Deutschen Auslandshandelskammern (AHK) Unternehmen vor Ort Unterstützung bei der Markterschließung. Das weltweite AHK-Netzwerk, von dem norddeutschen Unternehmen bei ihrem Auslandsengagement profitieren, sollte ausgebaut werden. Doppelstrukturen auf EU-Ebene sollten vermieden werden.
Nachweis- und Berichtspflichten für Einfuhren vereinfachen
Die Nachweis- und Meldepflichten, wie beispielsweise innerhalb des CO2-Grenzausgleichssystems (CBAM) für bei der Produktion bestimmter Produkte entstandene Emissionen, stellt norddeutsche Unternehmen vor große administrative Belastungen und wird die Import- und Produktionskosten der Unternehmen erhöhen. Um negative Auswirkungen auf die Wirtschaft zu vermeiden, wird empfohlen, die Nachweis- und Berichtspflichten zu verschlanken und angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Situation ganz von einer Anwendung abzusehen.
Reform der EU-Zollunion: Logistik der Seehäfen im Blick behalten
Die vorübergehende Verwahrung – Phase zwischen der Gestellung der Waren bei der Ankunft und der Entscheidung über ein Anschlusszollverfahren – spielt für die logistischen Abläufe in den Seehäfen eine bedeutende Rolle. Am 17. Mai 2023 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung über die umfassende Reform der EU-Zollunion veröffentlicht, um die datengesteuerte Zukunft des EU-Zolls im Sinne des digitalen Wandels zu fördern. Der Vorschlag sieht eine Verkürzung der vorübergehenden Verwahrung von derzeit 90 Tagen auf drei bzw. sechs Tage. Dies kommt in der Praxis einer faktischen Abschaffung dieser Regelung gleich. Aus Sicht der norddeutschen Wirtschaft wird diese Praxis als nicht umsetzbar angesehen. Wartezeiten an Zollknotenpunkten, wie Containerterminals an Seehäfen, die durch Risikobewertung, administrative Vorgänge und physische Kontrollen entstehen, können Abwicklungszeiten, die zwischen der Meldung des Beförderers über Ankunft im Zollgebiet bis zu dem Zeitpunkt, an dem Waren in ein Zollverfahren überführt werden, über mehrere Wochen hinziehen. Des Weiteren ist die endgültige Verwendung einiger Waren bei der Ankunft im Zollgebiet aufgrund schwankender wirtschaftlicher Faktoren sowie komplexer Lieferketten oft nicht abschließend festgelegt und eine vorübergehende Verwahrung unumgänglich. Auch die Importabfertigung von Sammelcontainern erfolgt derzeit in der Regel über einen Verwahrerwechsel mit den Packbetrieben, bei denen die Waren ausgeladen und im Anschluss von den Beteiligten einzeln verzollt werden. Sollte es aufgrund der stark verkürzten Tagesanzahl zu einem Ablauf der Frist für die vorübergehenden Verwahrung kommen, müssten die Waren in neu zu beantragende und aufwändigere Zolllagerverfahren überführt werden. Um negative Auswirkungen auf die norddeutsche Wirtschaft zu vermeiden, wird dringend empfohlen, die aktuell üblichen 90 Tage beizubehalten. Diese lange Verwahrungsdauer war eine der wenigen Verbesserungen, die der aktuelle Unionszollkodex in der Praxis für die Unternehmen gebracht hat.
Handelspolitische Schutzinstrumente mit Augenmaß
Bei Handelsschutzmaßnahmen gilt es, das Interesse der Wirtschaftszweige, die von den importierten Waren abhängen, mit dem berechtigten Schutzinteresse gegen wettbewerbswidrige Praktiken internationaler Handelspartner, die EU-Herstellern schaden, abzuwägen. Grundsätzlich sollten Schutzmaßnahmen daher mit Augenmaß angewandt werden. Wichtig ist bei allen Maßnahmen eine frühzeitige und umfassende Einbeziehung der Wirtschaft. In diesem Rahmen könnte ein neues WTO-konformes EU-Instrument wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen von Drittstaaten unterbinden bzw. abschrecken. Das 2022 in Kraft getretene EU-Instrument für das internationale Beschaffungswesen (IPI) sollte in einer Weise genutzt werden, dass es deutschen und EU-Unternehmen den Zugang zu öffentlichen Aufträgen in wichtigen Drittländern tatsächlich ermöglicht. Dabei sollten durch den im IPI eingebauten Dialogprozess mit Handelspartnern eskalierende Handelskonflikte vermieden werden.
Regeln für digitalen Handel und Güter mit Hoher Dienstleistung einfordern
Während die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen grundsätzlich nicht durch Zölle belastet wird, erhöhen in Gütern verkörperte Dienstleistungen (z. B. Software) den Zollwert einer Ware. Damit wird der Handel mit technologieintensiven Waren gegenüber dem Handel mit Dienstleistungen benachteiligt. In Verhandlungen über künftige oder die Modernisierung bestehender Abkommen sollten daher Regeln über den digitalen Handel und vorteilhafte Zollregeln für Güter mit hohem Dienstleistungsanteil eingebracht werden. Es kommen grundsätzlich zwei Alternativen in Betracht: Berücksichtigung von im Warenwert enthaltenen Dienstleistungen in den Ursprungsregeln oder bei der Zollwertbestimmung. Auch der grenzüberschreitende Fluss von Datenströmen muss gewährleistet sein, wobei Daten und geistiges Eigentum von Unternehmen geschützt und europäische Rechtsstandards im Digitalbereich gesichert werden müssen. Häufig sorgt die Verunsicherung über Datensicherheit für das Brachliegen von Geschäftsideen.
Zusammenarbeit mit der EU-Nachbarschaft vertiefen
Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich werden nach dem Brexit durch ein wiederkehrendes Infragestellen von bilateralen Vereinbarungen, inklusive des Nordirlandprotokolls und fortschreitenden Auseinanderdriftens bei Standards und Normen, zu Lasten auch vieler deutscher Unternehmen beschädigt. Nicht zuletzt angesichts gemeinsamer Wirtschaftsinteressen ist eine positive EU-UK-Zukunftsagenda gefragt: Das Handelsabkommen der EU mit dem Vereinigten Königreich (UK) samt Nordirlandprotokoll sollte erhalten, der freie Dienstleistungsverkehr ermöglicht und im Bereich Außenpolitik (Sanktionen, Investitions- und Exportkontrollen) ausgebaut sowie der Beitritt des UK zum Regionalen Übereinkommen (Paneuropa-Mittelmeer-Kumulierung) forciert werden. Hemmnisse für die Anwendung der seit 2021 möglichen, deutlich verbesserten Regeln des Regionalen Übereinkommens müssen weiter beseitigt werden. Ebenfalls ist eine engere institutionelle EU-Schweiz-Kooperation, etwa im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums, wirtschaftsstrategisch bedeutsam. Mit Blick auf die gesamte EU-Nachbarschaft gilt: So viele Staaten wie möglich sollten eng an den europäischen Binnenmarkt herangeführt werden. Zudem sollten Rohstoff und Konnektivitätspartnerschaften gerade zur digitalen und grünen Transformation ausgebaut werden.
Ernährungswirtschaft
Die Ernährungswirtschaft ist im norddeutschen Raum von besonderer Bedeutung. Regional orientierte Unternehmen des Mittelstandes und namhafte sowie überregional bekannte Konzerne haben hier ihren Sitz. Vor allem aber bestimmen eine Vielzahl kleiner Unternehmen die Branchenstruktur. Die Erzeugung, Verarbeitung und Veredelung von Lebensmitteln haben im Norden einen traditionell hohen Stellenwert. Ein länderübergreifendes Bewusstsein – mit dem Fokus auf Entscheidungsträger in der Politik – für die Leistungsstärke der norddeutschen Ernährungswirtschaft ist eine Zukunftsaufgabe, für die sich die IHK Nord einsetzt. Angesichts der vielfältigen Herausforderungen, vor der die Branche steht, muss die EU frühzeitig die Weichen für ein innovationsorientiertes, ökologisches und soziales Wachstum stellen.
Die IHK Nord fordert daher im Einzelnen:
Fischfang und -verarbeitung – Nachhaltige Entwicklungen Unterstützen
Der Fischfang, sowie die Fischverarbeitung in Norddeutschland stehen vor wirtschaftlichen Herausforderungen, darunter Umweltauflagen, steigende Energiekosten und Flächenkonkurrenz. Die IHK Nord setzt sich für den Erhalt dieser für Norddeutschland traditionellen und strukturell wichtigen Wirtschaftszweige ein. Somit spricht sich die IHK Nord gegen pauschale Verbote wie das Verbot der mobilen Grundfischerei im „Aktionsplan zum Schutz und zur Wiederherstellung von Meeresökosystemen für eine nachhaltige und widerstandfähige Fischerei“ der EU-Kommission aus. Stattdessen setzt sie sich für einen nachhaltigen und wirtschaftlichen Fischfang an den Küsten der Europäischen Union sowie die Fischverarbeitung aus internationalen Fanggebieten innerhalb der EU ein. Norddeutsche Unternehmen der Ernährungswirtschaft beobachten eine steigende Nachfrage nach regionalen und nachhaltigen Fischprodukten. Diese positive Entwicklung soll nicht durch europäische Verbote ausgebremst werden – beispielsweise durch ein Verbot der mobilen Grundfischerei, welches das Angebot an Nordseegarnelen einbrechen ließe. Die IHK Nord appelliert stattdessen an die EU, nachhaltige Entwicklungen in der traditionellen Hochsee- und Küstenfischerei zu unterstützen, beispielsweise durch Forschung und Innovation ökologischer Fischereimethoden. Forschende an den Wissensstandorten in Norddeutschland entwickeln solche Systeme, auch unter Nutzung von digitaler Bilderfassung und künstlicher Intelligenz. Die Europäische Union wird aufgefordert, der Nutzung solcher neuartigen Technologien den Vorrang vor dem simplen Verbot von traditionellen Fangmethoden einzuräumen. Gleichzeitig sollen auch Forschung und Investitionen in neue nachhaltige Produktionsmethoden unterstützt werden, beispielsweise in der landbasierten Aquakultur und Aquaponik sowie der Produktion von Mikro- und Makroalgen für den menschlichen Nahrungskreislauf.
Vereinfachung von Kontrollmechanismen im Lebensmittelrecht
Unternehmen der Ernährungswirtschaft kämpfen mit zahlreichen, teils unüberschaubaren und immer zahlreicheren bürokratischen Vorschriften im Lebensmittelrecht. Diese haben ihren Ursprung vorrangig in EU-Vorschriften. Der hohe bürokratische Aufwand im Lebensmittelrecht führt nach Angaben von norddeutschen Branchenvertretern zu einer signifikant sinkenden Innovations- und Investitionsbereitschaft in der Branche. Ziel muss es sein, dass die EU bestehende und künftige Regeln des Lebensmittelrechts hinsichtlich ihrer Notwendigkeit und Bürokratielastigkeit überprüft und vereinfacht. Ferner müssen Kontrollen des Tier-, Verbraucher-, Umwelt- und Rechtsschutzes auf EU-Ebene überprüft, vereinfacht und aufeinander abgestimmt werden. Die EU sollte die regionalen Kontrollmechanismen standardisieren und vereinfachen. Unternehmen ist mehr Freiraum für Produkt- und Prozessinnovationen einzuräumen. Ein fairer EU-Binnenhandel ist nur durch gemeinsame Grundsätze der Kontrolle und Labelling in Urproduktion, Verarbeitung und Veredlung sowie im Handel möglich. Diese gemeinsam vereinbarten Grundsätze sollten in den Mitgliedsstaaten vergleichbar umgesetzt und regional nach EU-weit gemeinsam vereinbarten Maßstäben kontrolliert werden. Gleichzeitig spricht sich die IHK Nord gegen zusätzliche bürokratische und betriebswirtschaftliche Belastungen wie eine verpflichtende Nährwert- oder Tierwohlkennzeichnung auf der Verpackungsvorderseite von Lebensmitteln aus. Wie in Deutschland soll die Einführung einer Nährwertkennzeichnung, wie des Nutri-Scores, auf freiwilliger Basis geschehen.
Nutztierstrategie – level playing field im EU-Binnenmarkt
Die IHK Nord begrüßt die vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft vorgestellte Nationale Nutztierstrategie als Weg für eine zukunftsfähige Tierhaltung in Deutschland. Zugleich müssen auf EU-Ebene Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die ökonomische Tragfähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe sowie der nachgelagerten Verarbeitung und Veredlung sicherstellen und die Nutztierhaltung nicht gefährden. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Vertiefung des EU-Binnenmarktes und dem internationalen Wettbewerb bei Rohstoffen und Fertigprodukten setzt sich die IHK Nord für eine einheitliche EU-Strategie ein. Landwirte, Produzenten, Händler und Verbraucher haben erst mit vergleichbaren Rahmenbedingungen auf allen Ebenen faire innereuropäische Wettbewerbsbedingungen. Hierzu zählen zwingend auch gemeinsam vereinbarte und vergleichbare Kontrollen und Sanktionen in den Mitgliedsstaaten.
Tourismus
Der Tourismus ist in Norddeutschland ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. In vielen Räumen an der Nord- und Ostsee sowie im Binnenland prägt er maßgeblich das Wirtschaftsleben und trägt in einzelnen Regionen mit einem Anteil von über 20 Prozent zur Bruttowertschöpfung bei. Er veranlasst in erheblichem Umfang Investitionen und sichert Arbeitsplätze und Einkommen. Überdies bietet die Wachstumsbranche Tourismus mit rund drei Millionen Beschäftigten Chancen für fast alle Qualifikations- und Bildungsniveaus. In den letzten Jahren und Monaten hatte die Tourismuswirtschaft in Norddeutschland mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie, der Energiekrise, Kostensteigerungen und Inflation und damit einhergehender Kaufzurückhaltung der Kunden und Gäste zu kämpfen.
Tourismusförderung sicherstellen und ausbauen
Der Tourismus hat für die wirtschaftliche Entwicklung Norddeutschlands eine große Bedeutung, im Besonderen mit Blick auf Arbeits- und Ausbildungsplätze, sowie für die Attraktivität der Innenstädte und des ländlichen Raums. Vor dem Hintergrund der wachsenden Herausforderungen muss die Finanzierung der für die touristische Entwicklung notwendigen Infrastruktur mittel- und langfristig sichergestellt werden. Die Förderung von Infrastruktur ist für den Tourismus elementar, da diese Anreize für private Folgeinvestitionen wie Hotelansiedlungen, Ansiedlung von gastgewerblichen Betrieben und Freizeitwirtschaft bietet. Deshalb fordern die norddeutschen Kammern im nächsten Finanzrahmen der EU einen erkennbaren Korridor für die finanzielle Begleitung touristisch nutzbarer Infrastrukturmaßnahmen, auch solcher, die gleichzeitig dem Hochwasserschutz dienen, und größtmögliche Spielräume für eine ganzheitliche und nachhaltige Tourismusförderung.
Aktionsplan für eine nachhaltige und widerstandsfähige Fischerei
Die küstennahe Fischerei ist für die deutsche Nord- und Ostseeküste identitätsstiftend und für den Tourismus in den Küstenbadeorten prägend. Sollte die Küstenfischerei, die unter großem Druck steht, beispielsweise durch ein Verbot grundberührender Fischerei geschwächt werden, hätte dies negative Auswirkungen auf den Tourismus in den Regionen. Denn Fischerboote und Kutter gehören laut Umfragen genauso zu den Gästeerwartungen wie der Verkauf frischen Fisches.
Stand der Europapolitischen Positionen: Januar 2024
Kontakt IHK Nord, Büro Brüssel
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